Kindheit in Lothringen (Teil 2 der Hommage)

Vorbemerkung: Dies ist Teil 2 der Hommage an eine Freundin meiner Großeltern. Wie in Teil 1 angekündigt ist in diesem Teil das aufgeschrieben, was sie mir im Alter von etwa 90 Jahren von ihrer Kindheit in Lothringen erzählt hat – Maria war im Jahr 1919 geboren, der Zeitraum, von dem sie erzählt, erstreckt sich über die 1920er bis in die 1930er Jahre:

Ich bin in einem größeren Dorf in französischen Lothringen aufgewachsen, es war ein Straßendorf, etwa 2 Kilometer lang, in dem rund 3.000 Menschen lebten. Die Frauen im Dorf arbeiteten auf dem Feld, die Männer sind zum Arbeiten in die Grube und nach der Schicht sind sie ins Feld, um dort noch zu helfen.

Meine Familie lebte in einem Haus, das oben und unten je vier Zimmer hatte, die Küche war extra. Neben dem Haus gab es noch eine Scheune und den Stall. Dort hatten wir zwei Kühe und eine Ziege. Die Ziegenmilch und was sonst noch übrigblieb, ging an die zwei Schweine, außerdem gab es noch Kaninchen und Hühner. Wir Kinder mochten die Tiere und wenn dann eines vom Vater geschlachtet wurde, schmeckte es nicht wirklich. Wir hatten auch einen Wachhund im Hof, der war immer an der Kette. Aber er war lieb und ein Schmusetier für uns Kinder.

Es war wirklich viel Arbeit für alle, oft haben Tanten bei uns geholfen, vor allem wenn die Männer auf der Schicht waren. Wir haben hauptsächlich von dem gelebt, was vom Hof kam. Von der Kuhmilch haben wir den Rahm abgeschöpft. Die Brocken bekamen die Schweine ins Futter, aus der restlichen Milch haben wir Quark gemacht. Wir hatten fast alles selbst angebaut, was wir übers Jahr und vor allem durch den Winter brauchten: Wir hatten jedes Jahr etwa 40 bis 50 Säcke Kartoffeln aus eigener Ernte. Auch Kohl und Karotten haben wir angebaut, die wurden im Garten im Erdboden eingelagert. Eier waren auch immer genug da.

Die Schweine wurden im Herbst geschlachtet, das ergab vier Seiten Speck, vier Hinter- und vier Vorderschinken. Jedes Haus hatte einen eigenen Räucherkamin: Die Wurst, die wir gemacht haben, war ähnlich wie eine Kochwurst oder geräucherte Bratwurst. Es gab aber auch Leberwurst und Griebenwurst, jede Tante hat etwas bekommen, denn sie hatten uns ja auch geholfen.

Je nach Bedarf wurde der Kohl reingeholt, geschnitten und als Sauerkraut eingemacht. Auch das Brot haben wir mit anderen Familien selbst gebacken: Das waren immer rund 30 Laibe Brot, jedes mit drei Pfund, also eineinhalb Kilo. Wenn der Backofen heiß war, haben wir gleich auch Kuchen gebacken, sehr oft gab es Quiche Lorraine.

Zu essen gab es sehr oft Bratkartoffel und Dickmilch oder Pellkartoffeln und Quark. Zubereitet wurde das Essen mit Schweineschmalz. Beim Essen hat mein Vater das Fleisch geschnitten, wir Kinder bekamen ebenso große Stücke. Das war nicht in allen Familien so. Bei einigen Familien bekam der Vater das größte Stück und die Kinder viel kleinere Stücke. Mein Vater war nicht so: Er wäre noch mit trockenem Brot zur Arbeit, wenn es nur uns Kindern gut geht. So gesehen hatte ich eine wirklich gute Kindheit.

Samstags ging es zum Laden, dort wurden Sachen wie Kaffee, Essig, Nudeln, Zucker, Salz und Öl gekauft. Die Kohle fürs Heizen bekamen wir von der Grube, wo mein Vater gearbeitet hat: Jeder Arbeiter bekam 9 x 2 Tonnen Kohle für zu Hause.

Im Haus wurde sehr auf Sauberkeit geachtet: Einmal die Woche wurde gewaschen, einmal in der Woche der Flur geputzt. Das Klo war noch ein Plumpsklo, es wurde einmal in der Woche geschrubbt und frisch gewachst. Mittwochs und samstags wurde in einer Zinkwanne gebadet, das Wasser kam vom Hof.

Kleidung wurde eher selten gekauft, die Strümpfe für Werktage wurden selbst gestrickt und bei der Kleidung wurde auch noch viel genäht. Bei Strümpfen und Schuhen wurde unterschieden zwischen Werktag und Sonntag, die Sonntagsschuhe waren Lackschuhe, auf die geachtet wurde. Auch wir Kinder hatten Werktags- und Sonntagsstrümpfe und bis ich 12 oder 13 Jahre alt war, habe ich (wie meine Brüder auch) ein Leibchen getragen. Solange ein Mädchen noch nicht ausgewachsen war, durfte es auch noch nicht an die Waschbütte. Was damals auch noch anders war: Als Frau trug man bis in die 1930er Jahre Strümpfe mit Strapsen, erst danach hat sich das verloren.

Der Tag sah bei uns so aus, dass wir jeden Morgen um 7 Uhr aufstehen mussten, nach dem Kaffee ging es zuerst zur Kirche, um 8 Uhr dann Schule. Die Klassen waren nach Jungen und Mädchen getrennt. Der Lehrer war sehr streng und ich hatte richtig Angst vor ihm. Früher war es so, dass im Dorf der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer richtige Respektspersonen waren, denen man auch nicht widersprochen hat.

Mittags konnten wir dann spielen. Ich hatte eine schöne Puppe mit Porzellankopf, mehr nicht. Wir haben anders gespielt damals. Wir waren viel draußen und auf der Schaukel. Wir konnten auch sorglos auf der Straße spielen, damals man musste keine Angst vor irgendetwas haben. Im Sommer haben wir Blaubeeren gesammelt, ganze Milchkannen voll. Im Winter wurde Wasser auf die Straße geschüttet, das war dann unsere Eisbahn. In der dunklen Jahreszeit haben wir auch gern Klingelmännchen gespielt, auch in der Hexennacht haben wir immer viel angestellt.

Eine Tante lebte in Saargemünd (französisch Sarreguemines) und arbeitete dort in einer Manufaktur. Am Zahltag war auch der Einkaufstag für Kleidung, wenn welche gebraucht wurde. Wer brav war, durfte mit. Das war eine tolle Abwechslung, wenn wir unterwegs waren. An diesem Tag gab es Süßigkeiten für uns Kinder. Das war aber nicht so viel Schokolade wie heute, damals war das noch sehr teuer. Auch südländisches Obst war eine Seltenheit: Es war wohl 1924 oder 1925, als ich zum ersten Mal Banane und Orange gegessen habe.

Manchmal sind wir auch zur Kathedrale gefahren, das war sieben Kilometer weit weg. Wir saßen im Zug, aber nicht im Passagierabteil, sondern im Viehwagen waren Bänke aufgestellt, auf denen wir sitzen konnte. Wir sind dann zu Fuß zurück und auf dem Rückweg in einer Gartenwirtschaft eingekehrt, die Wirtin war die Tochter des einen Nachbarn.

Am schönsten war die Zeit der Kirmes: Diese fand immer am zweiten Sonntag im August statt und es war jedes Mal eine Sensation, vor allem für uns Kinder. Samstags waren die Buden aufgestellt, die Kerwe ging dann bis Dienstag und einige Verwandte kamen von auswärts, da wurden zu Hause dann 12 bis 15 Kuchen gebacken, das waren so viele Kuchen, dass es nicht genug Platz auf einem Tisch gab, also hatten wir in einem Zimmer auf dem Boden ein frisches Betttuch ausgebreitet, wo dann die Kuchen gelagert waren.

Zusammen sind wir dann auf die Kerwe, für die Erwachsenen gab es Tanz, wir Kinder haben uns an den Buden vergnügt. Bei der Zuckerbude gab es sogar Nougat, man konnte auch schießen oder Dosen werfen, und dann war da noch das Karussell und die Schiffschaukel, jede Fahrt kostete 50 Centimes. Es war sicherlich eine Zeit mit viel Arbeit, aber es war auch eine schöne Zeit in meiner Kindheit.


Nachtrag: Den Link zu diesem Beitrag hatte ich auf Facebook gepostet und bin dort auch gefragt worden, wo genau die Freundin meiner Großeltern gelebt hatte. Das wusste ich nicht, daher habe ich die Ururenkelin kontaktiert und heute eine Antwort bekommen: das Dorf heißt Carling (zu früherer Zeit Karlingen, benannt nach dem Gründer Graf Karl-Ludwig von Nassau-Saarbrücken) und es liegt direkt hinter der Grenze zu Deutschland. Carling gehörte von 1871 bis 1919 zu Deutschland, musste dann an Frankreich abgetreten werden. Die Stadt in der Nähe heißt Saint-Avold. Bei der im Text erwähnten Kathedrale dürfte es sich um die Basilika Notre-Dame-de-Bon-Secours handeln. Auf Wikimedia habe ich einige Bilder vom Dorf und von dieser Basilika gefunden, sowohl neuere als auch ältere aus der Zeit, als die Freundin meiner Großeltern dort gelebt hat …

Bilder aus Carling:

Bilder der Basilika Notre-Dame-de-Bon-Secours:

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