Wie ich in einem vorherigen Beitrag erzählt habe, bin ich in engem Kontakt mit meinen Großeltern aufgewachsen. Und natürlich gab es immer Besuche von oder bei Freunden, so dass ich auch in einem lockeren Kontakt mit deren Freunden oder entfernteren Verwandten groß geworden bin. Sehr viele dieser Freunde waren schon vor meinen Großeltern verstorben, eine Freundin meiner Oma seit Kriegstagen gab es noch, sie war jedoch schon recht dement geworden und ein Austausch nicht mehr so möglich – aber es gab noch eine überlebende Freundin, die einige Jahre jünger war und die meine Großeltern um einige Jahre überlebt hat. Es war zwar nicht unsere wirkliche Oma und aber sie war im Alter der Großeltern, daher haben wir sie in der Familie immer „Oma Keppler“ genannt.
Für mich war diese Frau ein echtes Unikat, sie war ein ganz besonderer Mensch. Sie war eher klein und zierlich, aber ein richtiges Temperamentsbündel und sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Und sie hatte eine besondere Geschichte, sie war nämlich in Frankreich aufgewachsen und hat sich dort im Krieg während der deutschen Besatzung in einen der Soldaten verliebt und auch geheiratet. Nach dem Ende des Krieges folgte sie ihm in seine Heimat, nach Ludwigshafen am Rhein.
Dort lebte die Familie mit den zwei Söhnen zunächst in einem Mehrfamilienhaus, das gegenüber dem Haus meiner Großeltern stand, später zogen sie um in ein kleines Reihenhaus in der gleichen Straße. Meine Mutter ist mit diesen zwei Jungs (und noch anderen Kinder aus der Nachbarschaft) aufgewachsen, die Familien waren in engem Kontakt, man hat Silvester und Fasching miteinander gefeiert und jede Menge Spaß gehabt. Oma Keppler und auch meine Großeltern haben erzählt, dass sie in der Nachkriegszeit zusammengelegt haben – und das buchstäblich – um dann eine Flasche Wein zu kaufen und die gemeinsam zu trinken. Der Preis lag damals bei einer Mark oder einer Mark zwanzig und dann wurden hier dreißig oder vierzig Pfennige aus dem Geldbeutel geholt und dort fanden sich noch zwanzig Pfennige in der Tasche und so wurde gesammelt, bis es gereicht hat.
In späterer Zeit hat sich Oma Keppler von ihrem Mann getrennt und dann in einer südlichen Gemeinde des Landkreises in Eigenregie eine Gaststätte betrieben. Meistens habe ich sie gesehen, wenn sie bei meinen Großeltern zu Besuch war, aber als ich ein Teenager war, bin ich mit meinen Großeltern einmal dort bei ihr gewesen. Da hat sie erzählt, dass sie die Gaststätte um Mitternacht schließt, dann räumt sie auf, wäscht das Geschirr, wäscht die Tischdecken, macht alles pikkobello, bevor sie dann gegen drei oder vier Uhr ins Bett geht. Dafür schläft sie eben auch bis zehn oder elf, steht dann auf, frühstückt und geht an die ganzen Einkäufe, bevor sie mittags wieder aufmacht. Aus der Frau sprühte solch eine Energie und Tatkraft, das war wirklich unglaublich.
Ich glaube, als sie um die 70 Jahre alt war und nachdem auch ihr langjähriger Koch und Freund erkrankt ist, hat sie die Gaststätte aufgegeben und ist wieder nach Ludwigshafen-Friesenheim gezogen. Sie ist in dieser Zeit oft nach Frankreich nach Lothringen in ihre alte Heimat gefahren, sie war aber auch öfter für mehrere Tage im Elsaß, wo ihre Schwiegertochter mit den Enkelkindern lebte. Auch nach dem Tod der Großeltern haben wir sie immer noch besucht oder sie zu uns eingeladen.
Einmal, da war sie etwa 90 Jahre alt, haben wir sie mit dem Auto ins Elsaß gefahren und wurden herzlich aufgenommen, wir sind den ganzen Tag geblieben und erst abends wieder zurück. Mein Schulfranzösisch war sehr in Vergessenheit geraten, aber die Schwiegertochter und die Enkelkinder hatten ein wenig die deutsche Sprache gelernt, so dass wir uns ganz gut verständigen konnten, ansonsten hat sie übersetzt.
Etwa in dieser Zeit habe ich im Sommer einmal mit ihr in unserem Garten gesessen und sie gebeten, mir von ihrer Kindheit zu erzählen, damit ich es aufschreiben kann. Damals sind diese handschriftlichen Erinnerungen in einer Schublade gelandet. Neulich habe ich sie wiedergefunden und gedacht, die Website hier wäre doch der passende Rahmen, um ihrer zu gedenken. Ihre Erinnerungen werden im nächsten Beitrag veröffentlicht, es ist für jemanden in der heutigen Zeit wirklich staunenswert wie eine Kindheit auf dem Land vor mehr als 100 Jahren verlaufen ist.
Wie verlief ihr Leben ab dem 90. Jahr weiter? Irgendwann ist ihre bei Ludwigshafen lebende Ururenkelin zu ihr ins Haus gezogen und hat sie neben ihrem Studium mitversorgt und irgendwann wurde ihr 95. Geburtstag gefeiert. Wir haben sie immer noch regelmäßig zu uns geholt, jetzt nicht mehr stundenweise, sondern eher tageweise, wenn die Ururenkelin mal übers Wochenende unterwegs sein wollte. Die Autofahrten mit ihr zu uns oder wieder zurück zu ihr waren beeindruckend, sie wusste noch alles über jeden in der Familie und fragte und hakte nach, sie war geistig noch unglaublich präsent und sie war immer noch voller Energie – nur die Tatkraft war nicht mehr so vorhanden, sie brauchte mehr und mehr Hilfe. Aber sie redete und fragte und wollte wissen und versprühte dabei diese unglaubliche Energie während der Zeit bei uns. Und dann kam der 99. Geburtstag und natürlich verkündete sie, dass sie die 100 auch noch schaffen würde. Sie schien auch tatsächlich völlig unverwüstlich zu sein.
Im Sommer vor ihrem 100. Geburtstag war sie nochmal für ein paar Tage zu Besuch bei uns, als ihre Ururenkelin verreist war. Nur wenige Tage, nachdem sie wieder zurück war, ist sie schwer gefallen und musste ins Krankenhaus. Danach war klar, dass sie nicht mehr zurück kann. Sie kam dann in ein Seniorenheim in der Ortschaft, wo viele Jahre zuvor ihre Gaststätte war. Im September konnte sie dann tatsächlich den 100. Geburtstag feiern, im Seniorenheim war ein Raum für die Feier eingerichtet, es kamen viele Gäste und natürlich die Bürgermeisterin der Gemeinde um zu gratulieren. Aber man merkte ihr an, dass sie mit dem ganzen Trubel nicht mehr so ganz klarkam, die Bürgermeisterin war ihr fremd, die Umgebung war ihr fremd, aber sie freute sich dennoch, mit vertrauten Gesichtern zusammen zu sein und ihren Geburtstag feiern zu können. Nur wenige Wochen später, im November, kam dann die Nachricht, dass sie friedlich eingeschlafen war. Wir denken heute noch ab und zu an sie, erinnern uns gegenseitig an einige ihrer Sprüche und vermissen sie …
(Hier geht es zu Teil 2 und ihren Erinnerungen an die Kindheit in Lothringen … )